Die Macht der Erklärungen

Seit einiger Zeit bin ich sehr aufmerksam auf Erklärungen.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich während des Kunstgeschichtestudiums die mittelalterlichen Erklärungen zur Jungfräulichkeit Mariens belächelt habe: da es eine Jungfrau einmal geschafft habe Wasser in einem Sieb zu tragen, sei es auch möglich, dass Maria jungfräulich empfangen habe, zum Beispiel. Seitdem ich allerdings begonnen habe, mich mit Erklärungen zu beschäftigen, ist mir bewusst geworden, dass auch ich bereit bin, alles mögliche zu glauben, wenn mir nur eine passende Erklärung dazu geliefert wird. So erfahre ich beispielsweise, dass die EZB den Leitzins niedrig hält, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Preise im Euroraum schneller ansteigen zu lassen, denn das stabilisiert die Preise. Aha. Durch solche Erklärungen glaube ich viele viele Dinge, die ich nicht persönlich erfahren habe und bei denen ich mich auch nicht kompetent genug fühle, um mich damit zu beschäftigen.

Erklärungen haben eine große Macht. Sie können mich beruhigen „Diese Temperaturschwankung liegt in der Norm.“, sie können mich in die Verantwortung nehmen „Durch meine Entscheidungen bin ich im Leben so weit gekommen.“ oder mich aus der Zuständigkeit nehmen „Das ist Schicksal!“. Erklärungen können mich dazu bewegen, Schmerzen zu ertragen „Das sind nur die verspannten Muskeln“ oder Menschen nicht zu mögen „Der macht das vorsätzlich!“.

Es ist unglaublich spannend zu spüren, wie ich auf Erklärungen reagiere, welche Gefühle, Gedanken und Aktionen sie auslösen und wie sie meine Entscheidungen beeinflussen.

Erklärungen sind also auch ein kraftvolles Werkzeug, mit dem ich arbeiten kann. Sie stellen meine Erlebnisse und meine Gefühle in einen Rahmen und verändern sie dadurch, so wie ein Apfel auf einer Kiste anders aussieht wie auf einem Teller oder einem Seziertisch. Dabei ist die Erkenntnis wichtig, dass ich zwischen den Erklärungen wählen kann: Wie komme ich zu meinen mandelförmigen Augen? Ich kann das klären mit: Das ist genetisch bedingt. Im Pustertal gibt es diesen Augentyp, mein Cousin hat auch solche Augen. Das ist ein Nachhall auf mein früheres Leben in Asien. Das hat evolutionäre Gründe, die mongolische Rasse hat dickere Augenlieder, um besser vor Kälte geschützt zu sein. Diese Augenform passt am Besten zu meiner Seele. Die habe ich wahrscheinlich geerbt……

Welche dieser Erklärungen erfreut mich, welche deprimiert mich? Welche Aussage schwächt mich, welche finde ich interessant, welche verschließt mich? Meine Einladung ist, in den nächsten  Wochen auf Erklärungen zu achten, die ich von mir gebe und auf solche, die ich zu hören bekomme.

Und was geschieht, wenn die Erklärungen enden? Wo bin ich ganz im Sein, offen für das Leben in mir und um mich herum? Wie fühlt es sich an, wenn jegliche Erklärung überflüssig ist?

Ich bin neugierig!
Liebe Grüße Amathea